Bujinkan Wakagi Dojo Nürnberg

Keine Abkürzungen

Wie baut sich das Training im Bujinkan auf? Wir gehen vor, indem wir erlernen, uns gut zu bewegen. Ein sicherer Stand, eine gute Körperhaltung, ein Vermeiden von Verletzungen, zum Beispiel durch entsprechende Fallschule. Dazu trainieren wir zunächst Körperstellungen (Kamae) und Techniken (Waza). Gerade zu Beginn kommt einem das oftmals recht unnatürlich vor. So soll ich mich hinstellen? So soll ich mich bewegen? Über diese Schulter soll ich rollen? Wir fühlen uns unbeholfen und teilweise unwohl, weil wir uns außerhalb dessen „bewegen“, was uns bzw. unserem Körper vertraut ist.

Das ist okay. Es braucht seine Zeit, bis man sich natürlich und sicher bewegen kann, schaut euch Kleinkinder an, die das Stehen und Laufen lernen.

Nun könnt ihr aber alle schon stehen und Laufen (nun, ich will das hier nicht weiter kommentieren). Was soll das Geschwafel hier? Ich will doch nur lernen, mich zu verteidigen und dabei den Gegner im besten Fall zu besiegen! Dazu muss ich doch keine Kamae no Kata machen, oder mich in so eine weite Ichimonji no Kamae stellen, oder so einen komischen Jodan Tsuki machen, oder versuchen, so merkwürdig praxisuntauglich erscheinende Hebel und Würfe zu erlernen.

Nun, im Bujinkan finden wir viele Konzepte für unsere Techniken (Waza), unsere Formen (Kata; in der Kata trainieren wir die Waza), unsere Anwendungen/Variationen (Henka, in ihnen werden die Kata und die Waza lebendig, werden variiert, neu angewendet, angepasst), und die Natürlichkeit (Shizen 自然) im Kampf.

Worum geht es dabei denn? Letztlich ist das alles ein Mittel, uns weiterzuentwickeln und dem Ziel näherzukommen, Technik, Form und Varianten ganz natürlich anzuwenden, so dass wir uns nicht darauf konzentrieren müssen, und im richtigen Moment das Richtige tun.

So wie wir im Alltag auch Vieles können, ohne darüber nachdenken oder uns darauf konzentrieren zu müssen. Vieles geschieht quasi „ohne Absicht“: ich will zwar essen, aber ich führe die Gabel „einfach so“ zum Mund. Ich will zwar dort rübergehen, aber meine Schritte dorthin gehen wie von selbst. Ich stolpere, und mache strauchelnd ein, zwei Ausgleichschritte, über die ich nicht nachgedacht, die ich nicht geplant und „bewusst getan“ habe. Ich bin in einer Unterhaltung, und antworte ohne mir zuvor bewusst die Sätze zurechtzulegen, sie „entstehen“ während ich spreche, und setzen sich „automatisch“ fort.

Dahin wollen wir im Taijutsu auch kommen. Wir wollen dem Angreifer natürlich begegnen. Ohne Absicht, ohne Wollen. Ohne ihm zu signalisieren, was wir tun, so dass wir ihm keine Möglichkeit geben, darauf zu reagieren. Wir bewegen uns mit ihm, und das in einer Art, die er nicht als etwas „Unnatürliches“, gegen ihn Handelndes erkennt, auf das er reagieren kann.

Der Weg, um dorthin zu gelangen, ist 守破離 Shuhari. Das ist kein „Bujinkan-Geheimnis“, sondern ein in allen Japanischen Kampfkünsten verbreitetes Konzept. Letztlich ein universeller Ansatz, der auch in Lehrberufen, bei Künstlern u.v.m. vorhanden ist.

Auf unser Thema hier bezogen kann man es wie folgt zusammenfassen:

1. Shu (守): Erlernen und bewahren der Basistechniken (Waza, Kata)
2. Ha (破): Mit der Grundform brechen, weg von der Kata, hin zur Henka
3. Ri (離): Loslassen aller Technik und Form in Absichtslosigkeit. Transzendenz.

1. Shu: Hier erlernt man die Basistechnik (Kihon Waza) sowie die Grundformen (Kihon Gata). Die Kata genau zu erlernen dient dem technischen Verständnis und dem Verinnerlichen (zumeist mechanisch) nützlicher Bewegungsabläufe.
2. Ha: In dieser Stufe verlässt man die festgelegte Form (Kata) und findet neue Anwendungsmöglichkeiten und Bewegungsabläufe/-folgen, die von den Katas abgeleitet werden. Die (Angriffs-)Situation wird verändert, oder der Umgang mit dem Angriff. Auch wird die Grundtechnik (Kihon Waza) mitunter verändert.
3. Ri: Die höchste Stufe. Man löst sich gänzlich von der Form (Kata) und der Technik (Waza). Deren Prinzipien hat man bereits verinnerlicht. Ohne Absicht und mit der reinen Natürlichkeit in Körperhaltung und -bewegung lässt man die Grenzen der Erfahrung und des Bewusstseins hinter sich, die man zuvor in Kata und Henka trainiert hat.


Das Prinzip lautet
„Chosetsu Jigen no Sekai“ (超越次元の世界)
(Transzendente Welt).


Ihr seht, dass „Shu“, „Ha“ und „Ri“ aufeinander aufbauen: „Shu“ ist in „Ha“ enthalten, und die Essenz von „Shu“ und „Ha“ ist die Grundlage in „Ri“.

Wenn man dieses Prinzip verstanden hat erkennt man, dass es keine Abkürzungen gibt. Wer gleich in der Natürlichkeit (Shizen) trainieren will, nur mit „Feeling“ und ohne Form, der wird stets an Grenzen stoßen, die er kaum überwinden kann, da ihm die Essenz von Kata und Henka fehlen.


Kein „Ri“ ohne „Shu“ und „Ha“.
Keine Abkürzung.


Wer sich beim Kihon Training mit Waza und Kata langweilt, und nicht intensiv daran feilt, weil er lieber „freier“ arbeitet und von Henka (Variation) zu Henka springt, ohne die Grundformen gewissenhaft zu trainieren, wird ebenso an Grenzen stoßen, weil ihm die Klarheit der Technik, das Verständnis für Distanz und Winkel, für Hebelwirkungen und Gleichgewichtskontrolle fehlt.


Ohne „Shu“, kein „Ha“.
Keine Abkürzung.


Das bedeutet nicht, dass man im Training als Anfänger nicht auch mal mit (vorgegebenen?) Henkas arbeiten soll, oder als Fortgeschrittener nicht auch ohne Form und Absicht. Im Bujinkan finden die einzelnen Entwicklungsstufen nicht strikt getrennt statt. Es werden immer wieder mal Fenster geöffnet, die einen neuen Ausblick ermöglichen. Sehen, wohin die Reise geht. Spüren, was möglich ist. Es gibt auch eine Wechselwirkung im Verständnis.

An den Grundlagen muss man aber weiter fleißig arbeiten.

Und noch ein kleiner Tipp: Wenn man glaubt, sich als vermeintlicher Meister in der höchsten Stufe bewegen zu können, und man dann mal wieder merkt, dass etwas nicht funktioniert, lohnt es sich stets, eine oder gar beide Stufen zurückzugehen und das alles nochmal von vorn aufzubauen…

Dino Gheri, Daishihan
Noda-shi, Japan, Nov. 2019